#ehrenmensch - Werner Schmidt

Werner Schmidt, 77 Jahre, ist bei Perthes im Amalie-Sieveking-Haus in Hamm ehrenamtlich aktiv.

Werner Schmidt

Im Archiv stieß ich auf einen Text von ihm, den er in Vorbereitung auf ein Podium beim Dankeschöntag für Ehrenamtliche im Jahre 2018 verfasst hatte. Dieser Text beschreibt Begegnungen von Mensch zu Mensch beim Ehrenamt, wie sie Herr Schmidt mit den Bewohnerinnen und Bewohnern erlebt.

Aus dem Kontakt mit Herrn Schmidt über seinen zwei Jahre alten Text über das Thema Ehrenamt ergab sich nun etwas Neues. In meinem Postfach lag kurze Zeit nach einem schönen Telefonat mit ihm ein Paket mit einem neu geschriebenen Text von ihm, den er aus aktuellem Anlass verfasst hat. Dazu das Foto von ihm als „Leierkastenmann“, denn so tritt er eigentlich gerne in passender Montur mit schwarzem Anzug und Hut auf und freut sich über das Mitsingen, Schunkeln, Lächeln der Bewohnerinnen und Bewohner. Eigentlich. Eigentlich ist er regelmäßig dort, organisiert auch über die lebendigen Kontakte zum alten Arbeitsplatz als ehemaliger Schulleiter, dass Schülerinnen und Schüler dort im Amalie-Sieveking-Haus alten Menschen begegnen können. Nun aber bewirkt die Corona-Pandemie, dass Begegnungen in geselliger Runde nicht möglich sind. Herr Schmidt schreibt dazu seine Gedanken auf, die wir hier in voller Länge gerne einfügen.

Ulrike Egermann

Ich denke noch einmal nach über „Ehrenamt“

Werner Schmidt- Transkription Text Juni 2020

Ein Text aus dem Archiv, erst gute zwei Jahre alt, aber aus einer Zeit, in der wir eine Pandemie, wie sie heute uns alle umgibt und bedroht, nicht kannten, nicht einmal ahnten.

Starke und schmerzhafte Fesseln binden uns seither, vielleicht am schmerzhaftesten spüren sie die alten Menschen, die als ihre letzte Adresse ein Alten- und Pflegeheim nennen, dem Wohlklang dienend „Residenz“ beigegeben.

Ihre Tage, ihre gezählten Tage sind noch einsamer geworden als sie es sonst sind. Der Zwang, verzichten zu müssen auf den Besuch eines Menschen, der Anteil nimmt am Leben in immer enger werdenden Kreisen, der Wärme spendet und ein Wort spricht, das die Seele nährt.

„Gezählte Tage“, so überschreibt der Dichter Peter Huchel einen Gedichtband, im Jahre 1972 erschienen. Er, der selbst aus politischen Gründen jahrelang zu einem Leben in Isolation gezwungen wurde, lässt seine seelische Not in Worte fließen, wie ein Gefangener sie in den Kalk seiner Zellenwand kratzen könnte:

„Ich bette mich ein
in die eisige Mulde meiner Jahre.
Ich spalte Holz,
das zähe splittrige Holz der Einsamkeit.“

Wie viele Greise hier im Hause betten sich ein in die eisige Mulde ihrer Lebensjahre? Was kann sie bewahren vor dem Erfrieren? Wer will sie geleiten an ein wärmendes Feuer? Wird noch einmal ein alter Mensch der Flamme, der Lebensflamme, Nahrung geben und zähes, splittriges Holz spalten, aus seinem Innersten eine letzte Kraftanstrengung pressen gegen die Einsamkeit, bevor der kümmerliche Lebensfunke erlischt? Kann ich Peter Huchels „gezählte Tage“ mit meinen Gedanken über das Ehrenamt verbinden?

Mir scheint, eine besondere Frau zeigt mir, wie der Brückenschlag gelingen kann, ja wie er gelingen wird.

Olga Tokarczuk, Nobelpreisträgerin für Literatur 2018, gewährt uns Einblick mit ihrer Nobelpreisrede (gehalten Ende 2019!) in ein Prinzip ihrer Poetologie und „definiert“ einen Affekt – wir sind überrascht – den Affekt Zärtlichkeit.

„Zärtlichkeit ist die tief gefühlte Sorge um ein anderes Wesen und seinen Mangel an Immunität gegen Leid und Auswirkungen der Zeit. Zärtlichkeit nimmt Bindungen wahr, die uns verknüpfen, die Ähnlichkeiten und Gleichheit zwischen uns. Es ist eine Art zu sehen, die die Welt als lebendige zeigt, lebend, vernetzt, kooperierend und abhängig.“

Schon im ersten Satz ihrer Beschreibung von Zärtlichkeit ist in komprimiertester Form die Konstellation unseres Bühnengeschehens, des Daseinsgeschehens, aufgezeigt: Hier der alte Mensch im Altenheim – dort der junge Mensch in der Außenwelt. Zärtlichkeit, wir können sie als gedankliches und emotionales Leitmotiv über unser Handeln legen. Vielleicht können wir aber zuallererst dem Wort ablauschen, von welcher Eigenschaft es spricht.

Zart – so zart wie das sanfte Streicheln über den Arm, der sich bei uns einhängt, unsichere Schritte zu stützen. Zart – wie die behutsame Berührung der Wange in einem Gesicht müde vom Leben. Zart – wie die kleinkinderweiche Haut der Hände einer Frau, geboren vor mehr als neunzig Jahren, zart und verletzlich weich im Alter geworden, hart und schwielig und zerschunden in den Jahren ihrer Jugend, als sie deportiert wurde, Zwangsarbeit zu leisten für ein Volk, das sich in gottloser Hybris erhoben hatte zur selbsternannten Herrenrasse. Ich empfinde es als Ehre, wenn mich diese Frau in die schicksalhaften Seiten ihres Lebensbuches schauen lässt. In diesem Lebensbuche könnte ich mir eine Widmung von Peter Huchel vorstellen.

Ehren-Amt?

Zum Amt suche ich nicht weiter nach einer Verbindung. Manche sperrigen Begriffe, wie sie in Fachlexika stehen, werden adäquat gebraucht: Bürgerschaftliches Engagement, civic engagement, Freiwilligenarbeit, volunteering – in jedem Fall nebenberuflich und ohne Entgelt.

Wider den Weltverlust, gegen das Ausbluten eines lebensschwachen Geschöpfes, bedroht in der Einsamkeit, dagegen erwächst Rettung aus der Sorge um ein anderes Wesen, ein Wesen, dem es mangelt an Immunität gegen Leid und Auswirkungen der Zeit.

Gewiss ist der Zugang zu „Daseinsfragen“ über den Weg der Literatur von vielen Wegen nur einer. Ich selbst wähle ihn gern und häufig. Die gedankliche Annäherung an lebensbestimmende, an schicksalsgestaltende Ereignisse mag anderen Menschen über die Religion gelingen, manchen auch mit Hilfe der Prägung durch Erziehung. Wieder anderen durch Zugehörigkeit zu einer weltanschaulichen Gruppierung oder einer sozialethischen Gemeinschaft.

Nicht wenige aber öffnen einfach ihre Herzen und schließen damit alle Türen auf, durch die Menschen zu Menschen finden.

Werner Schmidt

Ehrenamt

Text vom 13.02.2018

Der Name hat sich eingebürgert. Ehre und Amt muß nicht angestrebt werden. Wir benutzen den Begriff zur schnellen Verständigung.

Ich komme gern in dieses Haus. Ich begegne Menschen und freue mich über diese Begegnung. Warum? Wir sprechen von Mensch zu Mensch. Wir kommen zusammen nicht auf einer geschäftlichen Ebene, nicht auf einer beruflichen Ebene. Wir begegnen uns zunächst als Unbekannte, aber wir nähern uns einander. Wir lernen uns kennen, weil wir etwas von uns erzählen, weil wir etwas voneinander hören wollen. Wir hören zu. Manche Bewohner leben schon über Jahre hier im Haus. Und manche sind dabei von Jahr zu Jahr leiser geworden, stiller, so still, daß wir ihr Sprechen fast nicht mehr hören. Wenn wir ihnen näher kommen, wenn wir nahe bei ihnen sind, dann hören wir wieder, was sie sagen, selbst wenn sie lautlose Worte sprechen. Dieses Zuhören brauchen wir als Menschen, dieses „Aufeinanderbezugnehmen“.  Das ist kein generöses so tun, als ob man Anteil nähme, es ist das unverstellte, nicht eigentlich rationale „Sichnäherkommen“. Nähe bedeutet, vertrauter miteinander werden. Das braucht Zeit. Aber hier im Hause wohnen viele Menschen, die viel Zeit haben, gerne für uns und mit uns. Wie lange sie noch Zeit haben auf dieser Welt, das weiß ein Anderer. Aber sie haben fast alle das Wissen um  gezählte Tage.

Wir können diese Tage begleiten und wir können diese Tage schöner und lebenswerter machen. Wir können es zumindest versuchen. Wir sollten es versuchen.
Aber: Wir kommen nicht zu den Alten, um unsere Maßstäbe zu setzen, sondern um ihre Maßstäbe anzunehmen und gelten zu lassen.

„Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe.“

Gehen Sie auf die Suche, machen Sie sich auf den Weg. Gehen Sie den Weg ein Stück gemeinsam mit den Alten, ein Stück auf den Lebensweg – vor dem letzten Weg.

Werner Schmidt