Predigt von Uwe Schulz beim Gottesdienst zum Neujahrsempfang 2017

„Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.“

Predigt von Uwe Schulz

Wir sind hier als Gemeinde zusammen unterm schiefen Turm der Pauluskirche. Um den sich der Mythos rankt, der Zimmermann habe sich verrechnet, und deshalb stünde nun der Helm so schief im Wind. Das ist offenkundig Unsinn. Aber die schlichte Erklärung ist halt nicht so aufregend: dass der Turm sich einfach gegen den Westwind stemmt seit mehr als sechs Jahrhunderten. So, wie das die Statiker geplant haben damals. Wir sind leicht zu elektrisieren von Mythen. Und das sagt Ihnen einer, der im Verdacht steht, selbst Mythen zu verbreiten. Jeder Fünfte in Deutschland nennt mich und meinesgleichen einen Lügner. Ich bin einer von der Lügenpresse, Journalist. Beim WDR. Sie dürfen mir also nicht alles glauben, was ich Ihnen jetzt sage. Glauben Sie mir das!

Im letzten Jahr hat zum gleichen Anlass Präses Kurschus gesprochen. Zu denselben Themen, die uns heute noch beschäftigen: Flucht, Vertreibung, Fremde, Angst vor dem Fremden. Ich habe den Eindruck, 12 Monate später sind die Fragen genauso drängend wie damals. Wohin steuert unser Land? Wie wollen wir gemeinsam leben? Was hält uns beieinander als Gesellschaft, als Volk? Und was haben wir als Menschen in der Kirche beizutragen? Knapp 4 Monate vor der Landtagswahl hier in NRW darf die Partei mit 10 Prozent der Stimmen rechnen, die ihr ganzes Programm um dieses eine Thema baut. Letztlich baut sie ihr Programm auch um einen Mythos: um den Mythos, dieses Land werde  bestimmt vor die Hunde gehen. Und um den Mythos: diese Partei allein wüsste, wie das zu verhindern sei. Man kann das beides glauben, wenn man will. Fakten, die das belegten, sehe ich nicht. Ich bin in der glücklichen Lage, dass in meinem Beruf dieselben ethischen Maßstäbe gelten wie in meinem Glauben: Christen bauen darauf: dass die Wahrheit sie freimachen wird. Seriöser Journalismus baut darauf: dass er sagen muss, was ist, damit wir alle eine Orientierung haben. Damit wir die Wirklichkeit erkennen, um freizuwerden von Mythen und Propaganda. Und Theologen bauen darauf: dass wir diese Welt in ihrer ganzen Wirklichkeit wahrnehmen dürfen. Wir sehen diese Welt als eine vorläufige, gebrochene; und gleichzeitig als eine, in der schon eine neue Welt angefangen hat zu existieren. Wir leben in einer Welt, die es Gott wert war, sie als Mensch zu betreten. Deshalb sind wir hier heute auch die Gemeinde derer, die nicht den Untergang predigt. Sondern die  Hoffnung. Wir sind die Gemeinde, die sich freuen darf. Wir dürfen uns freuen, dass Deutschland nicht vor die Hunde gegangen ist in diesen 12 Monaten. Wir dürfen uns freuen, dass mehr als eine Million Männer und Frauen und Kinder hier bei uns im Land Menschen gefunden haben, die ihnen helfen.

Tag für Tag beweisen unsere Nachbarn – beweisen vielleicht auch viele von Ihnen, dass uns das wichtig ist: Dazusein für andere. Das ist tatsächlich ein Stück abendländischer Kultur, die wir gerne bewahren wollen. Das ist die Kernbotschaft des Evangeliums: Menschsein für andere in dieser Welt; und ich betone es gerne vor einer Gemeinde, die der Perthes-Stiftung verbunden ist; für Sie bedeutet christliche Kultur: Menschsein auch für ganz andere. Wahrscheinlich spüren Sie gerade selbst, wie durch die Ritzen dieser Gedanken der Zweifel sich einschleicht: Vier Wochen nach dem  Terroranschlag von Berlin – wie sollten wir da froh sein? Wie sollten wir dankbar sein für die alltägliche Nächstenliebe nach dem Mord in Freiburg an einer Frau, die Nächstenliebe gelebt hat? Wie sollen wir uns freuen am friedlichen Miteinander nach den Anschlägen in Franken? Wenn solcher Zweifel aufkeimt, dann werden viele von uns nüchtern. Als hätten wir uns was vorgemacht. Als würden wir uns die Realität nur schönreden. Dieser Moment des Zweifels, das ist der Moment, in dem ich beschließe, nicht mehr auf die Möglichkeiten zu gucken, auf Chancen und Gelungenes, auf Geglücktes. Das ist der Moment, in dem ich sage: „Vorsicht, du kannst niemandem trauen. Die Welt ist voller Gefahren.“ Das ist der Moment, in dem ich empfänglich werde für das Misstrauen anderen gegenüber. Der Moment, in dem mir manche einzuflüstern versuchen, die Gefahr hätte ein Gesicht und eine Herkunft und eine Religion ...

Dieser Moment, wenn die Dankbarkeit weicht, und der Zweifel übernimmt, das Misstrauen, die Sorge; das ist der Moment, in dem ich mich wappne, mich schütze, mich panzere. Das ist der Moment, in dem ich mir selbst Härte verordne. Denn ich sehe ja, dass man damit durchkommt heutzutage. Mit Härte. Vielleicht sogar besser durchkommt als andere, die Weichen, die Sensiblen, die Durchlässigen. Wenn ich das Programm von Donald Trump auf einen Punkt bringen sollte, dann wäre das: „Sei hart.“ Sei hart gegen dich selbst, gestatte dir keinen Fehler. Sei hart gegen  deinesgleichen. Fordere, richte, strafe. Und vor allem sei hart gegen alle, die nicht für dich sind. Wir sind gerade Teil einer Geschichte, die Härte zur Tugend erhebt. So kommt es mir vor. Die Propheten unserer Zeit sagen uns: - Lass dich nicht weichklopfen von den traurigen Augen der Kinder in Syrien. Bleib hart. Sie sagen: - Lass dich nicht einlullen von der Rhetorik des Friedens in Europa: Sei hart – die Regierenden wollen dich damit nur betäuben, damit sie dich betrügen können. Die Propheten  unserer Zeit sagen: - Lass dich nicht erschüttern von der Idee, es gebe Wahrheit. Sei hart gegen dein Gewissen, lüge notfalls, wenn es deiner Sache dient. Sie sagen: - Lass dich nicht weichkochen von den Menschenverstehern und Mitfühlern und Helfern: Sei hart, zieh dein Ding durch. Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Und wenn jedes Volk sein eigenes Glück sucht, dann wird am Ende schon genug Glück dabei herauskommen.

Die Propheten unserer Tage sagen: - Lass dich nicht schwindelig quatschen von Gauck und Franziskus und all den Pfaffen: Sei hart, knall den anderen deine Sicht vor den Latz. Sollen sie sehen, wie sie damit klarkommen. Setze deine Meinung durch, dein Recht, deine Gerechtigkeit. Die selbstgemachte Gerechtigkeit. Die Selbst-Gerechtigkeit. Das sind die Botschaften der Propheten unserer Zeit, wie ich sie höre. Und mit denen ich mich auseinandersetze in meinem Beruf, in meinen Gesprächen, in den sozialen Netzwerken. Ich hab diese Sätze nicht zufällig ausgewählt. Es sind die Phänomene, die mich wirklich anfechten in den letzten Monaten. Zu sehen, wie grob viele Menschen miteinander umgehen. Facebook erzeugt ja nicht diese Grobheit; es bildet sie nur ab. Das lässt mich zweifeln am Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Das lässt mich instinktiv Schutz suchen.  Nach einer Rüstung greifen. Das lässt in mir den Wunsch wachsen, härter zu werden. Damit mich nicht mehr so vieles trifft. Zu sehen, dass wir nicht mal mehr im spirituellen Sinn darüber streiten, was Wahrheit ist. So wie Jesus das getan hat mit seinen Zeitgenossen. Wir verhandeln inzwischen, welche Wirklichkeit wahr ist. Wir reden über fabrizierte Nachrichten. Über Fake News. Wir lernen jeden Tag, misstrauischer zu sein. Ich begegne in dieser Woche tatsächlich dem Begriff: alternative Fakten. Das ist das, was früher mal Lüge hieß. Ich kann der Wirklichkeit nicht mehr trauen. Wahrheit ist verhandelbar geworden. Sowas ficht mich an in meinem schlichten Vertrauen auf den Verstand jedes Menschen. Auf seine Integrität. Auf die Faktizität. Und sowas lässt mich hart werden im Umgang mit allem, was unpräzise ist und gesteuert von Gefühlen und Vorurteilen. Zu sehen, dass dieselben Menschen, die das christliche Abendland zu verteidigen vorgeben, Galgen mit sich tragen für die, deren Politik sie ablehnen. Das lässt mich zweifeln an der Wirksamkeit der Botschaft Jesu. Es lässt mich zweifeln auch an mir selbst. – Ob ich vielleicht ein Schwärmer bin – und die Propheten, die ich gerade zitiert habe, Botschafter der Wahrheit? In meinem Kopf ist das im Moment die Kernfrage: Liege ich falsch im Vertrauen darauf, dass Gott dieser Obrigkeit sein Mandat erteilt hat, damit sie unserem Land eine Ordnung gibt? Liege ich falsch in der Annahme, dass ich als Journalist und als Christ das Mandat habe, dieser Obrigkeit auf die Finger zu gucken und sie zu ermahnen und zu loben und zu kritisieren und sie an ihre Aufgaben zu erinnern: Gerechtigkeit zu üben und das Land zu schützen? Liege ich falsch, wenn ich Paulus und Luther so verstehe, dass unsere Regierungen und unsere Parlamente erst mal Respekt verdient haben; und mein Vertrauen als Staatsbürger, dass sie ihrer Aufgabe gerecht werden, die sie von Gott bekommen haben. So wie wir unsere Arbeit als Aufgabe bekommen haben? Irre ich mich? Sind wir wirklich aufgerufen zum Umsturz?

Ich glaube das nicht. So sehr historische Vergleiche hinken. Aber Luther hatte es ziemlich schnell auch zu tun mit Leuten, die gesagt haben: „Wir als Christen bauen die Welt radikal um. Wir machen die Bahn frei für das Reich Gottes.“ Thomas Müntzer und die Revolte der Abgehängten des Mittelalters. Das Ergebnis waren die Bauernkriege. Und eine Diktatur der Rechtgläubigen. Deshalb bin ich so skeptisch, wenn mir Leute den Himmel auf Erden versprechen. Ihren Himmel. Der Vergleich hinkt weiter, aber ich frage mich: Ist es vielleicht auch ein Webfehler der lutherischen Tradition, sich der existenziellen Not nicht konsequenter angenommen zu haben. Die Obrigkeit eben nicht konsequent genug hingewiesen zu haben auf soziale Ungerechtigkeit. Das System nicht zu kritisieren, wenn es Reiche reicher macht und Arme ärmer? Ich fürchte, Kirche war zu wenig Kirche für andere. Und ist immer noch zu wenig Kirche für andere. Auch eine gewisse Härte, mehr aufs Wort zu setzen als auf die Tat. Da haben Sie es besser erwischt als Täter der Nächstenliebe. Mir kommt es in diesen Monaten vor, als wäre meine Heimat in einer geistigen Krise wie zuletzt vor acht Jahrzehnten. Plötzlich scheinen die Grundlagen unserer Zivilisation verhandelbar. Gewalt ist eine Option. Das Netz ist voller Todesdrohungen, voller Gewaltfantasien, voller Schmähungen, also wörtlicher Gewalt. Und die Polizei-Statistik ist voller Gewalttaten gegen Asyl-Unterkünfte. Mehr als 900 Angriffe waren es letztes Jahr. Mir kommt es vor, als wäre Deutschland in einer geistlichen Krise wie lange nicht. Dem Wachstum verpflichtet und der Sicherheit und dem Wohlstand. Der Währungsstabilität. Und dabei oft so verzagt und missmutig und lebensunlustig. Das Bewusstsein ist uns abhanden gekommen, wie gut es fast allen geht in diesem Land. Die Dankbarkeit schrumpft.

Mir hat Neven Subotic vom BVB gesagt vor ein paar Wochen: „Ich bin ein glücklicher Mensch“ – er hat sogar gesagt: „Ich bin der glücklichste Mensch, denn ich darf anderen helfen – und ich habe die Mittel dafür.“ Undankbarkeit ist für mich ein Zeichen von Härte. Wir haben uns imprägniert gegen die vielen kleinen Segnungen und Gaben unseres Alltags. - Und ich sage Ihnen das als einer, der auch eine Krankenakte hat und der als Freischaffender sich auch Gedanken macht, wie das Geld reinkommt ... Dessen Real-Honorare auch schrumpfen seit Jahren. Ich habe den Eindruck: Vor lauter Abhärtung sind wir zu hart geworden. Vielleicht irre ich mich. Dann wäre ich froh. Wir sitzen hier nur einen Kilometer entfernt von der Zeche, auf der mein Vater gearbeitet hat als Bergmann unter Tage. Mehr als zwei Jahrzehnte lang. Ich habe mich in den letzten Tagen intensiv befasst als Journalist mit Zechen wie Monopol da drüben. Und mit dieser Zeit, den 60ern und 70ern hier im Revier, als diese Zechen in die Krise geraten sind. Das Ruhrgebiet war damals schon im Strukturwandel. Der Bergbau war im Niedergang. Dramatisch. Zigtausende haben damals ihre Arbeitsplätze verloren. Das waren die Abgehängten der alten Bundesrepublik. Der Strukturwandel hat damals viele überfordert. Und dann laufen auch noch Langhaarige in den Großstädten herum und propagieren freie Liebe und internationale Solidarität. Es waren auch bewegte Zeiten. Und bei meiner Recherche bin ich überraschender Weise auf dieselben Phänomene getroffen damals, wie wir sie heute sehen: Sehr viele Menschen hatten Angst. Vor der Zukunft. Vor dem Ende des Wohlstands. Vor dem Abbruch des Vertrauten. Sie hatten ganz klar die Schuldigen vor Augen für die Krise: das waren die Eliten in Politik und Wirtschaft. „Strauß und Schiller –  Zechenkiller“, war eine Parole auf Demos zu Zeiten der Großen Koalition in Bonn. Finanzminister Strauß und Wirtschaftsminister Schiller waren gemeint. Die Linken waren schuld mit ihrem beknackten globalen Denken. Und wer war noch schuld an der Misere? Klar: Die vielen Gastarbeiter. Und was entsteht damals in der Krise aus den Ängsten und Unsicherheiten und Aggressionen? Härte! Ein Schlachtruf auf Demos Ende der 60er hieß: „Aktionäre an die Wand, Zechen in den Kumpels Hand!“ Und gegen Ende meiner Recherche in unserer Vergangenheit sehe ich eine Wahlprognose für die Partei der Härte von knapp 10 Prozent: Ungefähr jeder Zwölfte in NRW hat damals gesagt:  „Wenn sich hier nix tut, dann wähle ich NPD.“ Sie habens dann nicht getan in NRW. Die NPD ist in andere Landtage gekommen damals. Die Reflexe waren ähnlich wie heute im Volk: In Zeiten der Unsicherheit, in Zeiten der Angst, wählen wir Härte. Wir könnten jetzt sagen: das ist eine Episode geblieben. Diese Härte hat ja nicht gesiegt. Und wir hier sind der lebende Beweis, dass Härte gegen andere nicht trägt als Lebens-Prinzip. Mich erschüttert in diesen Monaten aber die Wucht, die Entschiedenheit all derer, die heute noch oder wieder an Härte glauben. Mich ficht an, dass in den USA einer mit solchen Prinzipien Erfolg hat. Dass einer, der nur Härte predigt, der einflussreichste Staatspräsident der Welt werden konnte. Dietrich Bonhoeffer muss ich einfach zitieren an dieser Stelle; den Pfarrer, der für mich Luthers Lehre so gut in die Gegenwart übersetzt – ist ja hilfreich im Reformationsjahr 2017.

Bonhoeffer sagt zu diesem Erfolg von Prinzipien der Härte, die mir so fremd sind: „Solange das Gute Erfolg hat, können wir uns den Luxus leisten, den Erfolg für ethisch irrelevant zu halten. Wenn aber einmal böse Mittel zum Erfolg führen, dann entsteht das Problem. Angesichts solcher Lage erfahren wir, dass nicht theoretisch zuschauendes Kritisieren unserer Aufgabe gerecht wird und Rechthabenwollen. Wir werden unserer Aufgabe aber auch nicht gerecht durch Opportunismus, also indem wir kapitulieren angesichts des Erfolges. Wer sich durch nichts, was geschieht, die Mitverantwortung für den Gang der Geschichte abnehmen läßt, weil er sie sich von Gott auferlegt weiß, der wird ein fruchtbares Verhältnis zu den geschichtlichen Ereignissen finden. Jenseits von unfruchtbarer Kritik und von ebenso unfruchtbarem Opportunismus. Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiter leben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare Lösungen entstehen – wenn auch vorübergehend sehr demütigende.“

Und damit bin ich endlich am Kern dieser kleinen Betrachtung. Bonhoeffer ermutigt uns hier – ganz in der Tradition Martin Luthers – uns nicht rauszuhalten aus dem, was unser gemeinsames Leben prägt. Uns nicht abzufinden oder abzuwenden, uns selber hart zu machen. Wir sollen uns einmischen in das, was unser Gemeinwesen ausmacht. Das Gemeinwesen, das die Griechen Polis nannten – und das wir Politik nennen. Ich verstehe also evangelischen Glauben als einen, der sich eben doch  einmischt in die Politik. Ich glaube, ein Christ ist, eine Christin ist, wer Gott gibt, was Gottes ist: Liebe und Vertrauen und fröhlichen Gehorsam. Und dem Kaiser, was des Kaisers ist: Respekt, Steuern, Gesetzestreue, bürgerschaftliches Engagement, Diskussion, Kritik. Und das alles – jetzt kommt endlich das entscheidende Wort: Das alles dürfen wir, können wir, sollen wir, werden wir beherzt tun. Sie ahnen es: Ich steuere zu auf die Losung über diesem Jahr ...

Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.

So stehts im Buch Hesekiel – des oder soll ich sagen: der? Propheten. Wir könnten uns jetzt den geschichtlichen Zusammenhängen dieser Zusage widmen aus dem sechsten Jahrhundert vor der Zeitenwende: Dass hier ein Volk angesprochen ist in einer existenziellen Krise. Entwurzelt, befremdet, in Sorge um die Heimat. Geistlich völlig ausgelaugt. Geistig verarmt. Nach Jahrzehnten, in denen dieses Volk bereit war, jedem Heilsversprechen hinterherzulaufen. Jeden Mythos zu glauben. Ein Volk, das sich seine Gerechtigkeit selbst schaffen wollte. Selbst-Gerechtigkeit. Das allein zu wissen meinte, was wahr ist. Was Recht ist. Dieser Satz geht an ein Volk, das sich solange verschlossen hat und gewappnet und abgehärtet, bis es hartherzig geworden ist. Durch keine Anrede Gottes in der Geschichte mehr zu erweichen. Und damit gilt die Anrede unbedingt auch mir. Der ich gerade geneigt bin, alles infrage zu stellen, niemandem mehr zu vertrauen und nichts mehr zu glauben. Weil alles so brüchig erscheint. Das Wort geht an mich, der ich glaube, am Besten verlässt du dich nur noch auf dich selbst. Härtest dich ab gegen die negativen Einflüsse. Gehst ins innere Exil.

Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch.

Die Verse drumherum sind dabei auch ansprechend: Von allen euren Götzen will ich euch reinigen, heißt es im Vers davor. Reinigen vielleicht von meinem Götzen des Rechthabenwollens und des Sich-Irgendwie-Arrangierens und der Sicherheit. Reinigen vom Götzen der Angst vor Zurückweisung und Abstieg. Ich will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben, heißt es nach dem Vers der Jahreslosung. Hier ist ein Herz versprochen, das sich immer wieder erweichen lässt. Ein Herz, das Gottes Anrede erwartet in der Gegenwart und das ein bisschen hüpft, wenn es diese Anrede hört oder sieht oder spürt. Ein Herz, das bereit ist, Demütigung zu ertragen für das, was wirklich zählt im Leben. Die Demütigung zum Beispiel, Gutmensch genannt zu werden. Oder Volksverräter.

Der Vers über diesem Jahr verspricht einen Geist, der nicht Prinzipien reitet, sondern der immer wieder neue Wege findet, die Liebe zum Nächsten auszudrücken – heutzutage wohl auch die Liebe zum Fernsten. Einen Geist, der sich nicht scheut, die Wahrheit zu sagen. Zu sagen, was ist. Und das heißt zum Beispiel für mich auch: Intoleranz klar zu benennen. Totalitäre Ansprüche klar aufzuzeigen. Heißt für mich: Sich einem Gottesstaat in den Weg zu stellen, egal auf welcher Schrift er gründen soll. Auch einem Staat, der die Nation vergötzt und Blutsbande und Volksgemeinschaft. Auch auf die Gefahr hin, dann von anderen Leuten islamophob genannt zu werden. Oder intolerant. Oder populistisch. Oder halt linksversifft. Oder Lügenpresse. Diese Wirklichkeit klar zu erkennen und zu benennen – auch dazu befähigt uns der Geist Gottes, der hier verheißen ist. Aber es ist immer der Geist dessen, der diese Welt lieb hat und die Menschen auf dieser Welt. Es ist derselbe Gott, der eine Steinigung verhindert hat und der die andere Wange hingehalten hat. Ein Gott, dessen Gerechtigkeit wir also nicht in der Tasche haben und immer nur zücken müssen nach Schema F, wenn wir gerade mal wieder was zu richten haben. Gottes Gerechtigkeit folgt nicht unseren Denkmustern, sondern sie lebt von Seinem Geist. Uns ist ein Herz versprochen, das schneller schlägt vor Freude über gute  Aussichten, die wir als Christen haben dürfen: Aussichten auf das Reich Gottes, von dem ich nur wenig weiß, aber eins ganz sicher: Das Reich Gottes ist nicht das Reich der Härte. Hier ist ein Geist versprochen, der über solche guten Aussichten eben nicht diese Welt vergisst und sie zum Teufel gehen lässt. Sondern der die Welt liebt und alle Kreatur, die hier zu Hause ist. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun. Das ist die große Schau, die über diesem Jahr steht. In all den Umbrüchen unserer Zeit gilt das Wort. Dass wir eine klare Orientierung haben, was Recht ist und Unrecht. Was Wahrheit ist und was Lüge. Wir haben Gottes Gebote. Und wir haben einen Geist, der uns hilft, diese Gebote halten zu können im Glauben. Und das schützt uns vor Verhärtung. Denn dieser Geist ist ein Geist der Kommunikation. Ein Herz muss durchblutet sein, es muss schlagen, es muss sich sekündlich neu einstellen auf das, was gerade geschieht. Hesekiel ruft uns über fast drei Jahrtausende hinweg zu: Strampelt euch nicht ab, als gäbe es keine Hoffnung. Ackert nicht bis zum Burnout, um die Welt zu retten. Lasst euch beschenken mit dem, was euch frisch macht und was euch am Leben hält wie ein neues Herz. Seid geduldig in dieser Spannung. Dass Gott schon dabei ist, neue Menschen aus uns zu machen, aber damit noch nicht fertig ist. Seid fröhlich im Glauben, dass ihr im Reich Gottes zu Hause seid und jetzt diese Erde bewohnen dürft und sie behüten. Das Leichteste an dieser Verheißung ist gleichzeitig das Schwierigste. Und damit komme ich zum Schluss. Ich schenke euch ..., lässt Gott ausrichten.

Bedeutet doch: wir empfangen. Wir sind passiv. Ist eigentlich ganz leicht. Und so schwer – da bin ich ziemlich sicher in einem Raum voller engagierter Leute, die gewohnt sind, zu machen. Ich glaube mit allen Vorfahren, die wir im Glauben haben – und ich sehe am Beispiel Jesu selbst: Dass wir diesen Teil der Verheißung auch ernst nehmen müssen, wenn sie uns verändern soll: Dass wir endlich den Mut haben, einfach nur dazusein im Hier und Jetzt, in der Gegenwart Gottes, und zu warten, dass er diese großartige Herztransplantation vornimmt an uns. Deshalb zum Anfang des Reformationsjahres und zum Schluss dieser Predigt ein Wort Martin Luthers gegen die Härte:

„Gleichwie die Sonne in einem stillen Wasser gut zu sehen ist und es kräftig erwärmt, kann sie in einem rauschenden Wasser nicht deutlich gesehen werden, auch erwärmt sie es nicht so sehr. Darum: Willst auch du erleuchtet werden und warm durch das Evangelium, damit dein Herz fröhlich werde, so gehe hin, wo du still sein kannst; da wirst du finden Wunder über Wunder.“

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.