Rede von Ulrich Lilie beim Neujahresempfang 2017 der Evangelischen Perthes Stiftung

Unternehmerische Diakonie im Umbruch

Rede von Ulrich Lilie beim Neujahresempfang 2017

Sehr geehrter, lieber Herr Schuch, lieber Herr Koopmann, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitarbeitende, liebe Freundinnen und Freunde der Evangelischen Perthes Stiftung, verehrte Gäste, „Unternehmerische Diakonie im Umbruch.“ Diese Überschrift ist mir für den heutigen Festvortrag mitgegeben. Ein kantiger Begriff: Umbruch. Nah am Bruch und seinen schmerzhaften Folgen. Im gesellschaftlichen Diskurs ist der Umbruch ja in der Regel mit der Krise verwandt. Die Wortwahl führt uns also direkt in schwieriges Gelände. Da möchte ich mit Ihnen eigentlich nicht sofort hin, ich möchte mir etwas mehr Zeit lassen und erlaube mir deswegen meinem Vortrag einen etwas anderen Drall zu geben. Ich nenne ihn:

„Teilhabe gestalten. Unternehmerische Diakonie im Wandel.“

„Wandel“ gefällt mir besser als Umbruch. Es ist eine andere Art der Bewegung. Wir arbeiten mit Nutzen für die gesamte Gesellschaft daran, dass unsere Arbeit in der Diakonie in Bewegung bleibt und sich auf eine Art wandelt, die den regionalen und fachlichen Bedarfen angemessen ist und die Teilhabemöglichkeiten der Menschen verbessert. Unbenommen, zu Wandlungsprozessen gehören manchmal auch Umbrüche. Plötzlich geht es schnell, Ereignisse überschlagen sich, wie dieser Tage in Berlin – doch insgesamt gehören auch solche Umbrüche zu dem fortwährenden Prozess, in dem sich auch die unternehmerische Diakonie befindet. Was lebt und lebendig ist, wandelt sich.

Drei Faktoren begünstigen Veränderungsprozesse, ob in der Politik, in der Nachbarschaft oder der Diakonie: Persönlichkeiten, vernunftgeleiteter Pragmatismus und die richtigen Partner. Darauf komme ich zurück. Zunächst möchte ich Sie einladen, zurückzuschauen. Es ist gut zu wissen, woher man kommt. Geschichte, und wie sie erzählt wird, schafft Identität.

Clemens Theodor Perthes (1809-1867) – der diakonische Urahn der Perthes-Stiftung – war Juraprofessor, konservativer Politiker und aktives Mitglied der evangelischen Gemeinde im mehrheitlich katholischen Bonn. Sein soziales Engagement konzentrierte sich nach seinem Abschied aus der aktiven Politik auf die ungezählten wandernden Handwerksgesellen, die meist in billigen Gasthäusern, den sogenannten „Schnapspennen“ unterkamen. Diese jungen Männer sollten vor Alkohol, Glücksspiel, aber auch der Sozialdemokratie oder anderen „Radikalen“ bewahrt werden. (So verliefen die Fronten damals eben, liebe anwesende Freundinnen und Freunde aus dem linken politischen Spektrum.)

Ich bin kein Historiker. Ich will Sie und mich inspirieren: Perthes – gut  bürgerlich, konservativ, akademisch gebildet - hatte zunächst, so stelle ich es mir vor, auch nicht viel mehr als Problembewusstsein. Er ließ sich anrühren von den Folgen der Armut vor seiner Haustür, wie einst der Samariter von der Not des unter die Räuber Gefallenen. Er entwickelte Empathie. Vielleicht trieb ihn auch die Sorge, dass die politische Linke zu sehr an Einfluss gewinnen könnte. Karl Marx‘  „Kommunistisches Manifest“ etwa war ja noch sehr neu. Ich stelle mir viele „Da dürfen wir nicht wegsehen!"-, „Da-muss-man-doch-was-tun“-Gespräche vor, unter Freunden, in Gemeinden, im Club oder in der Universität. Irgendwann kam die Idee, und dann kamen auch die Mittel. Das heißt: Natürlich kamen die nicht einfach. Die mussten beschafft werden. Strukturen gab es nicht, keine Regelfinanzierung. Kein Stellenplan. Keine Strategie. Aber eine Persönlichkeit mit Gottvertrauen und Empathie, Pragmatismus, die richtigen Partner und ein Ergebnis: 1854 wird – spendenfinanziert - seine erste „Herberge zur Heimath“ in Bonn eröffnet: solide, preiswert, verbunden mit religiösen Angeboten – für alle Konfessionen offen. Ein innovatives Konzept, das Schule macht. Sechzig Jahre später gibt es im Deutschen Reich 450 Herbergen mit 18 000 Betten. Sie gehören zum 1886 gegründeten Deutschen Herbergsverein. So tief reichen die Wurzeln des 1965 gegründeten Perthes- Werkes. - Ohne engagiertes Ehrenamt aus Glauben hätte das nie funktioniert, ohne ungewohnte Allianzen und einsichtige und ansprechbare Partner aber auch nicht.

Auch heute brauchen wir in Diakonie, Kirche und Zivilgesellschaft dringend bürgerschaftlichen Engagement und ungewohnte Allianzen – Menschen und Organisationen, die Netzwerke knüpfen, damit Männer und Frauen auch 2017 in einem reichen Land nicht in Armut und schwierigen Lebenslage versinken, sondern Halt und lebenswerte Alternativen finden. „Herbergen zur Heimath“ – im übertragenen Sinne. Haltestellen in einem immer schneller werdenden digitalisierten Leben für die, die dem Gesetz der Mobilität wegen ihres Alters oder einer Beeinträchtigung nicht genügen können, Orte, an denen sie gehört und gesehen werden. Selbstwirksamkeit erfahren. Orte, die Ihnen gerecht werden und ihre Stärken stärker machen.

Viele Persönlichkeiten, Sie, liebe haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden in der Evangelischen Perthes-Stiftung und ihren 35 Einrichtungen, spannen heute solche Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglichenden Netzwerke in Nordrhein -Westfalen. Rund 4100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und 1300 Ehrenamtliche unterstützen täglich über 6300 Männer und Frauen im Alter, mit Behinderungen, in besonderen Lebensphasen, Suchtkranke oder Menschen, die sich aufs Sterben vorbereiten.

Als Werk arbeitet die Perthes-Stiftung seit Mitte der Sechzigerjahre. Die Gesellschaft, die Kirche, in der das Werk damals begonnen hat und die, in der die Stiftung heute arbeitet, unterscheiden sich fundamental. Die Stichworte lauten: Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung, Säkularisierung, Migration und Flucht, Demografischer Wandel und Erderwärmung, UN-BRK und Inklusion. – Zwar sind die Menschen, die heute zu Ihnen kommen, immer noch suchtkrank, immer noch in schwierigen Lebenslagen, alt, behindert, krank und sterblich. Daran hat sich nichts geändert. Aber um ihnen weiterhin wirksam zur Seite stehen zu können, musste und muss die Stiftung und ihre Einrichtungen sich fortlaufend verändern. Eben nicht nur aus finanziellen Gründen. Ihr Unternehmen ist darum - das sage ich so pauschal - schon lange nicht mehr das Werk, das es einmal war. – Mir macht das Mut. Denn Sie zeigen, Diakonie verfügt über die Fähigkeit sich zu wandeln und veränderte Bedarfe und Bedingungen zu gestalten.

Fragen, die Diakonische Unternehmen sich in solchen Wandlungsprozessen immer wieder stellen und neu beantworten müssen, lauten: Wie bleiben wir glaubwürdig - evangelisch erkennbar und unternehmerisch handlungsfähig? Was ist unser besonderer fachlicher Beitrag als Akteure auf einem Sozialmarkt, ohne dabei unsere Werte in Wettbewerb und Preiskampf preiszugeben? Wie gelingt es, Angebots- und Werteorientierung auszubalancieren? Wie bleiben wir, wer wir sind, wenn wir uns doch fortwährend an veränderte sozialgesetzliche Vorgaben anpassen und neue fachliche Konzepte integrieren wollen? Wie können wir dazu beitragen, dass Menschen mit Beeinträchtigungen so selbstbestimmt wie möglich und mit möglichst vielen Teilhabemöglichkeiten im Gemeinwesen leben können? Hier hat das Perthes-Werk – z.B. mit seiner Strategie der Dezentralisierung – immer wieder neu Antworten gefunden und wird das weiter tun. Und hier – das sei an dieser Stelle betont –hat die unternehmerische Diakonie, als ein kostbarer Teil der sozialen Gestalt der Kirche, immer wieder neue Erfahrungen gesammelt – mit flexiblen Lösungen, mit angebotsorientiertem Agieren, in der Zusammenarbeit auch mit nichtkirchlichen Vertragspartnern. Von diesen unternehmerischen Erfahrungen können heute auch Kirche und Gemeinden sehr profitieren.

Ich spreche als ein beruflicher Grenzgänger zwischen Kirche und Diakonie, ich weiß, wie wirksam Kirche und unternehmerische Diakonie zusammen agieren können – mit großem Gewinn für alle Beteiligten, wenn sie mit Anderen für die Nachbarschaft in ihrem Sozialraum positiv prägende Kraft entfalten. Ich freue mich außerordentlich, dass die Perthes-Stiftung den kirchlichen Auftrag, die Partnerschaft mit den Gemeinden sehr ernst nimmt.

Das ist keine Selbstverständlichkeit. Ich bin jedenfalls immer wieder überrascht, wie hartnäckig sich in der verfassten Kirche, in vielen Gemeinden, aber auch in manchen Bereichen der Diakonie, die Auffassung hält, jeweils eine Art Sonderbereich der Gesellschaft zu sein, in dem es doch möglich sein muss unbehelligt von „störenden“ äußeren Einflüssen, allein auf sich selbst bezogen zu agieren. In Kirchengemeinden äußert sich diese Art der „Weltfremdheit“ oft als eine bürgerliche Milieuverengung. In Diakonischen Unternehmen begegnet mir mitunter ein etwas bräsiges Selbstbewusstsein, das sich hinter einer salopp gesagt „Wir sind die Guten und die Profis“-Haltung verbirgt. Ich halte solche Haltungen für fahrlässig und wenig chancenorientiert. Es ist an der Zeit, solchen Haltungen der Selbstgenügsamkeit gelingende Modelle zeit- und menschengerechter Kooperation entgegenzusetzen. In der Kirche wie in der Diakonie. Denn die Zukunft des Sozialen, des gesellschaftlichen Zusammenhalts in einer vielfältiger und unübersichtlicher werdenden Welt auch in Deutschland, die Zukunft des gelingenden oder misslingenden Miteinanders entscheidet sich vor Ort, im Sozialraum. Und hier können Kirchengemeinden in guter Kooperation mit der Diakonie wichtige Impulsgeber und Netzwerker sein, damit eine offene, soziale und gerechte Gesellschaft mit allen Anderen vor Ort gestaltet und erfahren werden kann. Das ist Gesellschaftsdienst für eine offene, soziale und gerechte Gesellschaft aus Glauben, das ist Diakonie.

Wie ein Diakonisches Unternehmen bei der Wahrnehmung seines Gesellschaftsdienstes mit seinen  Partnern in Kirchen- und Bürgergemeinden agiert, ist dabei von immenser Bedeutung. Diakonische Unternehmen wie die Perthes-Stiftung, das bringt die Größe des Verbundes mit sich, haben die Chance - und ich meine auch die Aufgabe, in Kirche und Gesellschaft Maßstäbe zu setzen. Sie tragen darum auch eine große Verantwortung – denn ihre Erfolge, aber auch ihre Fehler werden immer zurückgespiegelt auf „die“ Diakonie – und also auch auf „die“ Kirche. Diakonische Unternehmen sind ein stiller, aber kaum zu unterschätzender Faktor für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Und, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Arbeit greift tagtäglich tief in die Privatleben so vieler Bürgerinnen und Bürger ein. Nicht nur in die Leben von Alten, Behinderten und Kranken – sondern auch in die Leben ihrer Familien und Freundeskreise. Ob eine Pflegekraft, ein Sozialarbeiter, ein Geschäftsführer ein neues Konzept oder ein gutes Wort zu richtigen Zeit findet oder sich im Ton vergreift oder an der falschen Stelle schweigt, es hat Folgen. Ob man oder frau spürt, was für ein Menschenbild uns leitet, wie wir Konflikte führen, ob wir aufrichtig sind, wie wir mit den uns anvertrauten Geldern umgehen… - All das hat tagtäglich Auswirkungen auf unser aller Glaubwürdigkeit in einer Gesellschaft, die religiös und weltanschaulich vielfältiger geworden ist. Und in der einige die Stellung der Freien Wohlfahrt, also auch der Diakonie kritisch hinterfragen. Auf diesem veränderten Hintergrund zeigt sich in der alltäglichen konkreten Begegnung, was Diakonie und Kirche ausmacht: Die alleinerziehende Drogerieverkäuferin, die ihre Mutter nach einem Arbeitstag in der Altenpflegeeinrichtung besucht, ist bedürftig und wachsam. Der Taxifahrer, der den Vorstand am Portal seiner Einrichtung absetzt, merkt sich, wie wir ihm begegnen.

Sie, wir, Diakonie und Kirche, ja, freie Wohlfahrt, sind trotz aller erbrachten Leistungen nicht mehr selbstverständlich „die Guten“. Als Unternehmen mit christlichem, diakonischem, sozialstaatlichem und kirchlichem Auftrag sind die Maßstäbe, an denen unser Handeln gemessen wird, zu Recht gestiegen. Wir werden in einer kritischer und säkularer werdenden Medienwelt genauso streng beurteilt wie andere, von einigen auch strenger. Transparenz, Good Governance und Compliance sind Anforderungen, die an Unternehmen der freien Wirtschaft gestellt werden sie gelten darum noch einmal mehr für kirchlich-diakonische Unternehmen.

Warum? Drei Gründe will ich besonders hervorheben:

Diakonische Unternehmen haben einen klaren theologischen Auftrag zu guter Haushalterschaft

Alle Dienste und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege sind dem Gemeinwohl verpflichtet und also gemeinnützig. Was für ein Nutzen für diese Gesellschaft! Die Vergewisserung dieses Grundsatzes ist gerade angesichts der Einführung marktwirtschaftlicher und wettbewerblicher Elemente in die Arbeit der sozialen Dienste und Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege wichtig. Auch unter wettbewerblichen Bedingungen müssen soziale Dienstleistungen am Gemeinwohl ausgerichtet sein. Wir haben einen klaren theologischen Auftrag. Im ersten Petrus-Brief heißt es: „Und dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes“ (1. Petrus 4,10). Diese ‚gute Haushalterschaft‘ bezieht sich auf unseren treuhänderischen Umgang mit Spenden und den öffentlichen Mittel, wie auf eine Mitarbeiter-orientierte Führungskultur. „Gemeinschaftstreue“ heißt das mit einem schönen altmodischen Wort aus der biblischen Theologie. Und Burkhard Meyer-Najda schlägt in seiner 2012 erschienenen Dissertation 1 vielleicht nicht zu Unrecht die Vereidigung von Aufsichtsräten diakonischer Träger auf solche Werte vor.

Diakonische Unternehmen berufen sich nach außen hin auf christlichen Werte – und werden daran zu Recht gemessen.

Wir arbeiten an unserer Profilbildung und generieren auf diese Weise ein besonderes Vertrauen. Wer sich auf der Homepage der Perthes-Stiftung unter dem Reiter „Über uns“ umschaut, erfährt eine Menge über Auftrag (christlich, diakonisch, sozialstaatlich, kirchlich), über das Biblische Menschenbild über Selbstverständnis, Grundaussagen und Perspektiven. Die Selbstverpflichtung ist anspruchsvoll: professionell, christlich geprägt, wertschätzend im Umgang, fair, dialogisch gegenüber Mitarbeitenden und Klienten. Aber hoch ist die öffentliche Fallhöhe Diakonischer Unternehmen bei Fehlverhalten oder Misswirtschaft. Und wenn wir uns in öffentlichen Debatten für die Umsetzung und Achtung dieser Werte in der Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft zu Recht stark machen, müssen wir uns zuerst selbst an ihnen messen lassen.

Diakonische Unternehmen bilden in der politischen und medialen Öffentlichkeit in Kirche und Diakonie längst eine Haftungsgemeinschaft.

Aus guten Gründen profitieren wir alle vom Image und dem Status der Gemeinnützigkeit, dessen Erfüllung mit Anstrengungen verbunden ist. Aber mitgefangen, mitgehangen. Erinnern Sie sich an die Maserati-Affäre der Berliner Treber-Hilfe? Falls nicht: Im Internet finden sie problemlos alle Details dokumentiert. Wir in der Diakonie leiden alle noch unter ihren Folgen. Wenn uns in sozialen Netzwerken Bereicherung vorgeworfen wird, sind das auch verständliche Reflexe auf Entgleisungen wie diese. Auch der Unicef „Spendenskandal“ mit Aberkennung des Spendensiegels oder die besonderen Wohnumständen eines ehemaligen katholischen Limburger Bischofs fallen auf uns zurück. Gerechtfertigt oder nicht: Was in den Köpfen vieler bleibt, ist eine diffuser Ärger über „die raffgierige Kirche“.

Deswegen geht es im Agieren eines Diakonischen Unternehmens immer um mehr als nur um die Fahrlässigkeit oder Professionalität dieses einzelnen diakonischen Unternehmens, des einzelnen Trägers oder der Einrichtung. Es geht vielmehr immer um die Verantwortung vor Ort für das Gesamtbild „der“ gemeinnützigen Organisationen, „der“ kirchlichen Wohlfahrt und „der“ Kirchen überhaupt. Es geht um unser aller Geschäftsgrundlage und Legitimation, auf gut neudeutsch geht es um unsere „license to operate“.  Zumal der rechtliche Rahmen, in dem wir uns bewegen, immer komplexer wird.

Das ist schon eine hohe Verantwortung – aber sie reicht noch weiter: Diakonische Unternehmen tragen auch eine Mit-Verantwortung für das Vertrauen oder die Erosion des Vertrauens in –wertegeleitetes Handeln. Das, was die Kritiker einer Offenen und sozialen Gesellschaft gerne als Gutmenschentum denunzieren und verspotten. Diese Kritiker finden sich überall, – auch in Ihrem Unternehmen. Sie zweifeln daran, dass die etablierten gesellschaftlichen Kräfte, – zu denen auch die Diakonie gehört –, in ihrem Interesse arbeiten. Diese Menschen sind nicht irgendwo – sie sind hier. Sie sind auch nicht alle Nazis. Sie sind aber alle verärgert und enttäuscht. Sie treffen Sie im Kollegenkreis und unter Ihren Klientinnen und Klienten. Und es ist unverzichtbar, ihnen zuzuhören, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, auch in den Konflikt zu gehen und zu widersprechen. Sie positiv zu enttäuschen. Diakonische Unternehmen arbeiten an der Basis der Gesellschaft. Sie als Perthes- Stiftung tragen in Nordrhein-Westfalen eine große gesellschaftliche Verantwortung – gerade jetzt im Wahljahr 2017. Auch das gehört zu unserer Glaubwürdigkeit.

In der Wirtschaft, zu der auch  Diakonische Unternehmen gehören, wird „Glaubwürdigkeitsverlust“ heute unter der Überschrift „Compliance“ diskutiert. Was bedeutet Compliance für Diakonische Unternehmen?

Zunächst ist festzuhalten, dass die meisten Compliance-Probleme (nicht nur in der Diakonie) nicht durch kriminelle Energie entstehen, sondern durch mangelnde Kompetenz der Aufsicht. – Und zwar

a) durch mangelnde Kompetenz im wirtschaftlichen Bereich

Meine Erfahrungen in Aufsichtsgremien haben mich gelehrt, dass es sehr viel seltener wirkliche kriminelle Energie wie im Fall der Treberhilfe ist, die zu Problemanzeigen führt. Gegen echte kriminelle Absichten ist kaum ein System gefeit. Absichtliche Untreue, Betrug und Straftaten machen aber den geringsten Teil von Compliance aus. Wenn das Kind sprichwörtlich in den Brunnen gefallen ist und die öffentlich gestellten Fragen laut werden: „Wo war denn da der Aufsichtsrat?!“, wird man bei Nachforschungen eher auf mangelndes Engagement oder mangelnde Feldkompetenz für diakonische Fragestellungen stoßen. „Mangelnde Kompetenz“ kann sich beispielsweise in der Weise äußern, dass zu wenige Aufsichtsratsmitglieder über die einschlägigen Qualifikationen, über die notwendigen Kenntnisse für die umfassende Beurteilung der Handlungsfelder und Finanzierungsbedingungen diakonischer Arbeit verfügen.

Ein weiteres Problem ist b) mangelnde Kompetenz im kirchlich-diakonischen Bereich.

Schwierig wird es auch dann, wenn ein Mitglied eines Aufsichtsrats seine eigenen beruflichen privatwirtschaftlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit einfach eins zu eins auf einen

gemeinnützigen diakonischen Träger überträgt. Schwierig, wenn ein ehemaliger hochqualifizierter Dax-Vorstand, der nun in den Aufsichtsrat eines diakonischen Unternehmens berufen ist, aus dieser neuen Position immer wieder in das laufende Geschäft des Vorstandes eingreift und nicht sauber zwischen Aufsicht und operativem Geschäft zu trennen vermag. Und bis heute kommt es im  kirchlich-diakonischen Bereich zu unangemessen hohen Selbstdotierungen von Geschäftsführungen oder anderen Unregelmäßigkeiten, für die dann wie in Berlin bis heute spürbar alle diakonischen Träger in Gesamthaftung genommen werden.

Als Bundesverband werden wir häufig angesprochen und um Rat gebeten, wenn eine Einrichtung in eine Krise geraten ist. Unser Erfahrungswert an dieser Stelle: Geschätzt 90 Prozent aller Krisen wären vermeidbar gewesen, wenn Organmitglieder und relevante Mitarbeitende sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst gewesen wären, das heißt wenn die Regeln bekannt gewesen und eingehalten worden wären. In einer zunehmend gegenüber Kirche und Diakonie kritischer werdenden Öffentlichkeit sind das zu viele Konjunktive. – Hier können Diakonische Unternehmen besser werden. Wie kann das gehen?

Ich zitiere eine sehr brauchbare Definition des Düsseldorfer Anwalts und Compliance-Fachmanns Eberhard Krügler: „Der Begriff Compliance steht für die Einhaltung von gesetzlichen Bestimmungen, regulatorischer Standards und Erfüllung weiterer wesentlicher und in der Regel selbst gesetzter ethischer Standards und Anforderungen.“ [Eberhard Krügler]

In der bloßen Einhaltung gesetzlicher Regelungen - erschöpft sich Compliance allerdings nicht. Der zweite Teil dieser Definition ist für uns und unsere christliche Unternehmenskultur mindestens genauso wichtig – auch wenn man hier „nur“ seine Reputation und Glaubwürdigkeit verlieren kann. Auf dem Gebiet freiwilliger ethischer Standards und Verhaltensgrundsätze berührt sich Compliance mit einem anderen englischen „Wortungetüm“: der Corporate Social Responsibility. Corporate Social Responsibility (CSR) oder auch einfach Corporate Responsibility benennen als übergeordnete Begriffe die gesamtgesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen und Organisationen, wobei hier nicht exklusiv nur Wirtschaftsunternehmen gemeint sind.

Gesellschaftliche Verantwortung in diesem Sinne zielt auf eine umfassende Form nachhaltigen Handelns – und zwar im sozialen, ökologischen wie im ökonomischen Bereich. CSR ist dabei kein Luxus besonders liquider Unternehmen oder ein naives Gutmenschentum, das die Welt auf Kosten der eigenen Wettbewerbsfähigkeit retten will; CSR bedeutet zeitgemäßes und nachhaltiges Management von Unternehmen und Organisationen. Das haben auch andere privatwirtschaftliche Unternehmen längst erkannt.

Es lässt sich beobachten, wie in kürzester Zeit in allen großen Konzernen Nachhaltigkeitsabteilungen entstehen, um dem Thema die nötige Relevanz entgegenzubringen. Die Deutsche Bank, Volkswagen, RWE: Alle haben jetzt ihre eigene Corporate-Social-Responsibility-Abteilung (CSR) und entwickeln einmal pro Jahr dicke Broschüren für die Öffentlichkeit. Auch wenn sich bei genauerem Hinsehen die hoch gelobte Nachhaltigkeit in manchen Fällen als dekoratives Beiwerk zum Kerngeschäft entpuppt hat, ist klar, dass Unternehmen zunehmend in der Öffentlichkeit auch daran gemessen werden, wie umfangreich und glaubwürdig sie das Thema Nachhaltigkeit umsetzen. Hier haben wir als Diakonie noch Luft nach oben. Wenn Sie etwa nicht nur an den fair gehandelten Kaffee in der Kantine, sondern an Ihre komplette Einkaufskette denken.

Auch hier braucht es Persönlichkeit, Pragmatismus und die richtigen Partner - und Risiko- und Verantwortungsbewusstsein, gekoppelt mit Gestaltungswillen. Bei Perthes haben sie das.

Wir fangen nicht bei Null an. Wir haben im Verband gute Ansatzpunkte entwickelt, an die Sie anknüpfen können:

• Wir haben den neuen Diakonischen Corporate Governance-Kodex, den ich jedem unserer Mitglieder ans Herz lege.

• Darüber hinaus gibt es die gemeinsamen Transparenzstandards von Caritas und Diakonie. In diesen Standards wird dargelegt, welche Bedeutung Transparenz für die Akzeptanz kirchlicher Träger in der Öffentlichkeit z.B. für die Spendenbereitschaft besitzt. Beide Bundesverbände haben im letzten Jahr erstmals einen Transparenzpreis für ihre Mitglieder ausgeschrieben, um für die Umsetzung dieser Standards zu werben, Beispiele guter Praxis zu würdigen und den betreffenden Unternehmen und Einrichtungen eine Plattform zu geben. Erfreulicherweise kamen die Gewinner in den beiden Kategorien „über 50 Mitarbeitende“ und „unter 50 Mitarbeitende“ jeweils aus der Diakonie. Wir sollten Gutes tun und darüber sprechen.

• Werben möchte ich zuletzt für die „Rahmenbedingungen einer christlichen Unternehmenskultur“, die ebenfalls von Caritas und Diakonie gemeinsam erarbeitet worden sind. Sie sind als Teil der Qualitätspolitik der beiden Verbände konzipiert und sollen einen Beitrag leisten zur Organisationsentwicklung kirchlich-sozialer Träger.

Ob es immer gleich eines umfangreichen Compliance-Management-Systems braucht, muss sicher je nach Größe des Trägers entschieden werden.

Aber es geht auch einfacher:

Als hilfreich hat sich ein bei Siemens wenige Fragen umfassender Kompass für die Entscheidungen von Mitarbeitenden erwiesen. Ich finde ihn sehr praxisnah und bin sicher, er lässt sich für Ihre Belange entsprechend abwandeln. Die Fragen, die sich Mitarbeitende stellen soll, lauten wie folgt:

  1. Ist es im Interesse des Unternehmens?
  2. Ist es im Einklang mit unseren Unternehmenswerten und meinen Werten?
  3. Ist es rechtmäßig?  
  4. Ist es moralisch richtig?  
  5. Ist es etwas, wofür ich bereit bin, Verantwortung zu übernehmen?

In dem Unternehmen, in dem sich alle Mitarbeitenden solchen Fragen stellen, ist bereits vielgewonnen.

Ich werbe dafür, Compliance nicht nur als Bestandteil des internen Kontrollsystems zu betrachten, sondern als Chance einer zukunftsfähigen Unternehmensentwicklung. Gerade in einem anspruchsvoller werdenden Wettbewerb könnten wir die Gesellschaft und die Politik hier noch wirklich überraschen!

Eine konkrete Anregung zur weiteren Vertiefung möchte ich Ihnen für 2017 mit auf den Weg geben: Und zwar die nächsten Ausschreibung des Transparenzpreises 2017. Diesmal sind Unternehmen bis und ab 250 Mitarbeitende eingeladen. Ich wünsche mir, dass sich 2017 nicht nur fünf diakonische

Unternehmen bewerben, sondern 50! Ich gebe zu, eine Bewerbung wird jetzt sportlich, denn der Einsendeschluss ist schon der 28. Februar. Dennoch: Herzliche Einladung, sich mit Ihren Unternehmen daran zu beteiligen!

Ich komme zum Schluss – und damit nochmal an den Anfang meines Nachdenkens: „Teilhabe gestalten. Unternehmerische Diakonie im Wandel“ - so habe ich mein Thema zugespitzt. Und ich habe gesagt das komplexe Veränderungsprozesse von Persönlichkeiten, Pragmatismus und den richtigen Partnern profitieren. Sie verfügen in der Perthes-Stiftung über Vieles, was für Verbesserungsprozesse notwendig ist. Das beweisen Sie auf vielfältige Weise tagtäglich auf den unterschiedlichsten Ebenen Ihrer Arbeit. Ich bin sicher, Sie werden diesen Weg weiter gehen. 

Was ich Ihnen heute darüber hinaus, aber besonders in diesem Jahr, ans Herz legen möchte, ist die Mitgestaltungs-Verantwortung auch der großen Unternehmen für den Weg, den unsere Gesellschaft zukünftig gehen wird. Welche Gesellschaft wollen wir sein? Die anstehenden Wahlen – auch die in Nordrheinwestfalen - werden Weichen stellen. Wo sehen Sie sich als Diakonische Unternehmen in diesem Prozess? Ich werbe für den Gedanken, dass die Diakonie in ihren unterschiedlichen Gestalten, sich als Teil der Lösung der anstehenden und gesellschaftlichen Herausforderungen versteht. Wir sind Mitgestalter. Auch Sie, die Diakonische Unternehmen sind gefragt.

Ich bin überzeugt, dass wir in Diakonie und Kirche einen weltanschaulichen Schatz hüten, von dem unsere Gesellschaft immens profitiert. Die biblische begründete Selbstverpflichtung, auf der Seite der Schwächsten zu stehen, ja, ihren Schutz rechtlich abzusichern, birgt das Geheimnis eines starken, vielfältigen Gemeinwesens. Dafür dürfen wir nicht aufhören zu werben. Schon lange ist diese Option für die Armen und Schwachen nicht mehr Alleinstellungsmerkmal der Kirche. Sie hat sich säkularisiert. Zum Glück: Wir haben Bundesgenossen, Weggefährten ins nahezu allen gesellschaftlichen Segmenten. Das heißt auch: Wir haben Partner in der Gesellschaft, mit denen wir zusammenarbeiten können und sollen. Wie kann das aussehen? Sehr unterschiedlich. Ich beteilige mich darum an dem Debattenformat „Offene Gesellschaft“, das Diakonie Deutschland unterstützt. Die Debattenreihe „Welches Land wollen sein?” war ein riesiger Erfolg – 50 Veranstaltungen mit etwa 8.000 Menschen, die sich ausgetauscht haben – offen, unhysterisch, live, analog. In Farbe und 3 D – wenn Sie so wollen. Von Schwedt bis Saarbrücken, von Stralsund bis Freiburg i.Br. Das Konzept denkbar einfach: Ein Theater, ein Hörsaal, ein Kulturzentrum, eine Gemeinde oder ein Diakonisches Unternehmen werden zum Debattierclub. Drei bis vier Menschen unterschiedlichster Hintergründe geben Impulse zu ihrer Idee einer offenen Gesellschaft - und dann wird die Debatte im Saal eröffnet. Jeder, jede kann sich beteiligen. Ohne Manuskript. Ohne Tagesordnung. Jetzt, im Jahr vor der Bundestagswahl, haben sie das Spektrum erweitert. Die Aktivitäten vieler Organisationen, Bündnisse und Einzelpersonen werden zu „365 Tage Offene Gesellschaft“ gebündelt: von der Filmpremiere über das Musikfestival, die Debatte, das Theaterstück bis hin zur Demonstration.

Wir in der Diakonie Deutschland finden das Format bestechend. Ich versuche immer wieder an den Debatten teilzunehmen, diakonische Positionen in die Diskussion einzuspeisen. Am Montag war ich in Bremen, heute Abend werde ich in Darmstadt mit debattieren. Diese Veranstaltungen schaffen einen öffentlichen Raum für Menschen, die sonst kaum ins Gespräch kommen würden. Jeder Abend verläuft anders. Es geht nicht um Ergebnisse, sondern um Austausch. Hier leben und gestalten Menschen die offene Gesellschaft, zu der auch wir als evangelische Kirche, als Diakonie gehören. Das begeistert mich. Auch Diakonische Unternehmen können Veranstalter sein - mit Ihren Einrichtungen, mit den Kirchengemeinden, mit ihren Partnern vor Ort. Mehr unter www.die-offene-gesellschaft.de. Nehmen Sie bitte Ihre sozialpolitische Verantwortung aus Glauben auch in der Form wahr, dass Sie sich aktiv in die gesellschaftlichen Debatten einbringen. Diakonie steht für den Geist der Empathie, für Anwaltschaft und Beteiligung der vermeintlich Schwachen, unabhängig davon, was sie glauben oder welche Muttersprache sie sprechen. Wir wollen Mitglieder einer offenen, sozialen und gerechten Gesellschaft sein. Bitte treten Sie öffentlich und streitbar für dieses erfolgreiche und menschendienliche Gesellschaftsmodell ein!

Diakonie heißt von der griechischen Wortwurzel her nicht nur dienen – sondern auch dazwischen gehen. Wir in der Diakonie sind „Dazwischengeher“, Brückenbauer, Ermöglicher. Ich danke Ihnen für Ihr großes Engagement, mit dem Sie hier in Nordrhein-Westfalen solche Brücken bauen, für das, was Sie ermöglichen. Und dafür, dass Sie - wo es sein muss - engagiert dazwischen gehen - aus Glauben, für Mitmenschlichkeit, für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.

Glück auf und Gottes Segen!

1Burkhard Meyer-Najda: Diakonische Corporate Governance als unternehmenstheologische Gestaltungsaufgabe - Grundlagen, Kriterien und Durchführung von Unternehmensaufsicht inEinrichtungen der Diakonie, Wuppertal/Bethel 2012.